„Als Leto dich gebar, die gebietende, König Apollon,
Während ihr zierlicher Arm fest um die Palme sich schlang,
Aller Unsterblichen Schönsten, am Bord des gerundeten Landsees,
Da ward Delos erfüllt rings, die unendliche Flur,
Voll ambrosischen Duftes, es lachte die riesige Erde,
Und laut jauchzten des Meers grauliche Wogen im Grund.“
(Theognis von Megara, Trinklieder, in: Mörike, Lyrik, 34)
Von Mykonos aus betrachtet scheint die flache Insel an manchen Tagen wie ein Floß auf dem Wasser zu treiben. Manchmal wirkt sie zum Greifen nah, dann verschwindet sie beinahe wieder hinter dem Horizont. Eine optische Täuschung, die vermutlich bereits in der Antike bekannt gewesen ist, denn dem Mythos nach wird sie ursprünglich als „die schwimmende Insel“ bezeichnet. Erst als sie der umherirrenden Titanin Leto Schutz gewährt, wird sie durch mehrere Säulen am Meeresboden verankert. Leto, die Geliebte des Zeus, suchte auf der verzweifelten Flucht vor der zürnenden Hera einen sicheren Ort um ihre beiden Kinder Artemis und Apollon entbinden zu können. Die Insel, die zuvor in manchen Quellen als Ortygia (Wachtelinsel) oder Asteria (nach der Tochter des Titanen Koios) bezeichnet wird, verwandelt sich daraufhin in Delos – die Sichtbare (Pindar, Fragment 33d bzw. Leto, Theoi Greek Mythology).
Nachdem Delos im mykenischen Zeitalter erstmals an Bedeutung gewann, dürfte mit den Ioniern (ca. 1100-900 v. Chr) der Kult um Leto, Apollon und Artemis auf die Insel gekommen sein. Der Mythos rund um die Geburt der beiden Götter findet sich in der Antike in zahlreichen literarischen Variationen. Auch Homer trug mit seinem aus dem 7. Jh. v. Chr. stammenden Apollonhymnos zur Berühmtheit der Insel bei. Neben dem Entstehungsmythos beschreibt er das Delos seiner Zeit bereits als Versammlungszentrum der Ionier, als Ort der Opfergabe, der Feiern und Wettkämpfe (Homer, Apollonhymnos). Homer bezieht sich damit bereits auf das pangriechische Delische Fest, welches mit Unterbrechungen über viele Jahrhunderte auf Delos begangen wurde. 426 v. Chr. wurde das Fest unter großem Aufwand von den Athenern erneuert und durch die delischen Spiele ergänzt.
Die heilige Insel – die Anfänge des Apollonheiligtums
Zahlreiche griechische Städte und Inseln brachten ihre Weihgaben zur Insel des Apollon und versuchten mittels Kunstwerken und neuen Tempeln auch ihre politische Bedeutung im griechischen Raum zu unterstreichen. So erbauten die Naxier in Delos bereits im 7. Jh. v. Chr. eine Vorform des sogenannte Naxierhauses und ließen die berühmten Löwen von Delos aufstellen. Weihgeschenke wie die aus dem 6. Jh. v. Chr. stammende Statue des Apollon (Koloss der Naxier) wurden dem Inselheiligtum gestiftet. Aber auch Paros und Samos waren im selben Zeitraum mit zahlreichen Weihgeschenken auf der Insel vertreten. In der 2. Hälfte des 6. Jh. beginnt schließlich unter dem Tyrannen Peisistratos der Einfluss der Athener stärker zu werden. Nach dem Sieg gegen die Perser übernimmt Athen eine Vormachtstellung in der gesamten Ägais. Von 478 v. Chr. bis 456 v. Chr. wird Delos zum Sitz der Bundeskasse des Attisch-Delischen-Seebundes auserkoren und somit zu einem wichtigen politischen Zentrum des athenischen Kosmos. Die Insel erlebt ihre erste große Blütezeit und bleibt bis auf wenige Jahre bis zum Ende des 4. Jh. v. Chr. unter athenischer Verwaltung.
Unter Peisistratos wird mit dem Bau des archaischen Apollontempels (auch Porostempel) begonnen. Zusammen mit dem Tempel der Delier und dem Tempel der Athener bildet er das Apollonheiligtum – das Zentrum des heiligen Bezirkes. Der Tempel der Delier wird 478 v. Chr. von den Athenern begonnen, jedoch erst im folgenden Jahrhundert von den Deliern fertiggestellt. Das letzte der drei Bauwerke, der Tempel Athener, wird hingegen bereits 417 v. Chr. geweiht. Anschließend an das Heiligtum wurden im Norden Schatzhäuser verschiedener Städte zu Ehren Apollons errichtet.
Der Insel des Handels – Theaterviertel und Erweiterung des heiligen Bezirkes
Aufgrund der Popularität des Apollonheiligtums begannen sich immer mehr Menschen in Delos anzusiedeln. Die unmittelbare Nähe der Siedlungen und Gräber nährte schon bald die Angst, dass die Ruhe des mächtigen Gottes durch den Menschen gestört werden könne:
„Im selben Winter vollzogen die Athener eine Reinigung auf Delos, wohl nach Weisung irgendeines Orakelspruches. Auch Peisistratos, der Tyrann, hatte schon früher die Insel gereinigt, aber nicht die ganze, sondern nur so weit man vom Tempel aus überblicken konnte. Damals aber wurde sie zur Gänze gereinigt: Was von Gräbern der Toten auf Delos vorhanden war, alle exhumierten sie, und für die Zukunft schrieben sie vor, dass man auf der Insel weder sterben noch dort gebären dürfe…“
(Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 3, 104)
Einfach und nüchtern schildert Thukydides, der Vater der modernen Geschichtsschreibung, die rituelle Reinigung (Katharsis) der Insel Delos durch die Athener im Winter 426/425 v. Chr. Der peloponnesische Krieg tobte bereits seit einigen Jahren und im dicht bevölkerten Athen war 428/427 die Pest ausgebrochen. Um den mächtigen Gott Apollon gnädig zu stimmen, beschloss man daher die heilige Insel Delos zu reinigen und alle Toten von Delos auf die Nachbarinsel Rheneia umzubetten.
Nach dem Zusammenbruch der athenischen Vormachtstellung in der Ägäis entwickelte sich Delos unter makedonischen Einfluss im 3. Jh. v. Chr. schrittweise zu einem wichtigen Handelsplatz. Zahlreiche Kaufleute begannen sich auf der Insel anzusiedeln und im Schatten des Heiligtums gewann der Getreide- und Sklavenhandel mehr und mehr an Bedeutung (Strabon, X 5,4). In diese Zeit fällt auch die erste massive Siedlungstätigkeit im sogenannten Theaterviertel, eine zivile Siedlung, welche sich vom heiligen Bezirk bis zum neu errichteten großen Theater an den Hängen des heiligen Berges Kynthos erstreckte.
168 v. Chr. besiegten die Römer die Makedonier und übergaben die Insel zur Verwaltung wieder den Athenern. Doch nicht einmal massive Eingriffe der Athener wie die Vertreibung der Delier im Jahr 166 v. Chr. (die Vertreibung der Einwohner und die Neugründung einer Stadt durch eigene Siedler war ein grausames „Standardprozedere“ im alten Griechenland) konnte das Wachstum von Delos stoppen. Die Insel entwickelte sich durch den Zuzug von Kaufleuten aus der gesamten Mittelmeerregion zu einer kosmopolitischen Siedlung, die bis zu 25000 Einwohner beherbergte.
Von den Makedoniern bis zu den Römern ist eine permanente Erweiterung des heiligen Bezirkes aber auch des Theaterviertels festzustellen. Rund um das Apollonheiligtum wurden neue Gebäude zum Zwecke der Versammlung und des Handels der einzelnen internationalen Kaufmannschaften (Agora der Italiker, Agora der Competaliasten, Haus der Poseidoniasten etc.) errichtet. Die Umgebung des Apollonheiligtums muss in diesen Jahrhunderen einer permanenten Baustelle geglichen haben. Neben den klassischen griechischen und römischen Gottheiten prägten neue Kulte aus Ägypten, Phönizien und anderen Regionen die Stadt. Bis heute weithin sichtbares Zeichen dieser neuen Kulte sind der Isis-Tempel über dem Theaterviertel sowie das Haus der Poseidoniasten nördlich des heiligen Bezirkes. Im Theaterviertel entstehen die prächtigsten Bürgerhäuser vor allem in römischer Zeit. Die zahlreichen hellenistischen Villen geben Zeugnis vom beeindruckenden Reichtum der delischen Kaufleute dieser Zeit.
Der Untergang
Der Untergang kam für die ungeschützte Insel relativ abrupt. Zu lange verließ man sich auf den Ruf von Delos als heiligen Ort. Im Kampf um die Vorherrschaft in der Ägäis und im Schwarzen Meer führte Mithridades, der König von Pontus, von 89 v. Chr. bis 63 v. Chr. einen erbitterten Krieg gegen das römische Reich. Im Zuge dieser Auseinandersetzungen wurde Delos, deren Bewohner auf der Seite der Römer standen, schließlich 88 v. Chr. von Mithridades erobert:
„Menophanes, ein Heerführer des Mithridates… landete mit seinen Dreirudern in Delos; und da die Insel nicht befestigt war, und die Einwohner keine Waffen hatten, so machte er ohne Unterschied, sowohl die Fremden, die sich gerade da aufhielten, als auch die Delier selbst nieder, schleppte viele Kaufmannsgüter und alle Weihgeschenke fort, machte außerdem Weiber und Kinder zu Sklaven, und die Stadt Delos selbst dem Erdboden gleich.“
(Pausanias, Griechenland, 3.23, S. 370)
Die Insel wurde zwar von Rom zurückerobert, aber bereits 69 v. Chr. erneut von Piraten unter Athenodoros, einem Verbündeten des Mithridades, erobert und zerstört. Obwohl die Stadt in der Folgezeit von einer Mauer umgeben wurde, erholte sie sich nie mehr von den Folgen der Zerstörung. Im Mittelmeer entstanden neue Handelszentren und die Stadt schrumpfte unaufhaltsam. Im 2. Jh. n. Chr. wird sie vom Historiker Pausanias in seiner Reise durch Griechenland bereits als weitgehend verlassen beschrieben (Pausanias, Beschreibung Griechenland, 8.33, S. 841).
Wenn im Licht der späten Nachmittagssonne die Schatten der Ruinen länger werden und das letzte Ausflugsschiff am alten Hafen von Delos ablegt, bleibt nur das Wachpersonal der Ausgrabungsstätte zurück. Während auf der Nachbarinsel Mykonos die Hektik vor der allabendlichen Party beginnt, bleibt Delos auch mitten in der touristischen Hochsaison der Ägäis ruhig und verlassen zurück. Das alte Gesetz der Athener, dass auf Delos niemand begraben und niemand geboren werden soll, hat plötzlich wieder Gültigkeit.
Literatur:
- Theognis von Megara, Trinklieder, in: Eduard Mörike, Griechische Lyrik, ed. Walther Killy, Frankfurt am Main 1960. Siehe auch: http://gutenberg.spiegel.de/
- Nigel McGilchrist, Greece – the Aegean Islands, Blue Guide, ed. Heinrich Hall, Michael Metcalfe, London 2010, S. 64-82.
- Homer, Apollonhymnus, in: Eduard Mörike, Griechische Lyrik, ed. Walther Killy, Frankfurt am Main 1960. Zitiert nach: Projekt Gutenberg http://gutenberg.spiegel.de/
- Pausanias Periegeta, Beschreibung von Griechenland, aus dem griech. von H. Reichardt, Bd. 8, Stuttgart 1855, in: Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen, ed. Christian Nathanael von Osiander, Gustav Schwab, Bd. 237, Stuttgart 1854.
- Pausanias, Periegeta, Beschreibung von Griechenland, aus dem griech. von Karl Gottfried Siebelis, Bd. 3, Stuttgart 1828. Zitiert nach: GoogleBooks: Link zu Eintrag bei Google Books
- Pindar, Fragment 33d, übersetzt von R. Hampe, in: Erika Simon, Die Götter der Griechen, München 1985, S 136.
- Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, 3, 104, ed. Helmuth Vretska, Werner Rinner, Reclam, Stuttgart 2002.
- Maria Ypsilanti, Deserted Delos: A Motif of the Anthology and Its Poetic and Historical Background, in: Greek, Roman, and Byzantine Studies 50 (20 10 ) S. 63 – 85.
- Photini Zaphiropoulou, Delos – Denkmäler und Museum, Athen 2007.
Webpages:
- Leto, in: Theoi Greek Mythology, Exploring Mythology in Classical Literature and Art. http://www.theoi.com/
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