„Qui il tempo è come un mare senza sponde, senza sole, senza luna, senza stelle, immenso ed uno.“
„Hier ist die Zeit ein uferloses Meer, ohne Licht, ohne Mond und ohne Sterne – gewaltig und allumfassend.“
(Luigi Settembrini, Ricordanze, S. 56)
Während das Ausflugsboot die kleine Insel Ventotene anläuft, wird der Gast per Bordlautsprecher auf die vorgelagerte ehemalige Gefängnisinsel Santo Stefano hingewiesen: „Die Konstruktion des Gefängnisses erlaubte jedem Gefangenen nur 10 Minuten Licht pro Tag…“ Sofort ist das Interesse der Touristen geweckt und dutzende Fotoapparate werden auf die seltsame Konstruktion, die auf dem höchsten Punkt der Insel thront, gerichtet. Doch bereits wenige Minuten später läuft das Boot in den kleinen Hafen von Ventotene ein und das Interesse an der Gefängnisanlage weicht der Aufregung des bevorstehenden Landgangs.
Einen gewissen Bekanntheitsgrad erreichte die Insel durch das Manifest von Ventotene, welches bereits 1941 die Idee einer europäischen Föderation für den Frieden beschrieb und wichtige Impulse für die italienische Europapolitik der folgenden Jahrzehnte gab. Verfasst wurde das Manifest von den italienischen Antifaschisten Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni, während sie ihre Haftstrafen im Gefängnis von Ventotene abbüßten (Spinelli, Manifest Ventotene).
Bereits im antiken Rom dienten Ventotene wie auch Ponza als Verbannungsort für unliebsame Verwandte der römischen Imperatoren. Nach dem Ende des römischen Reiches blieb Ventotene allerdings jahrhundertelang unbewohnt. Die Neubesiedlung der Insel begann erst Ende des 18. Jahrhunderts als der bourbonische König von Neapel, Ferdinand IV. (Ferdinand I. beider Sizilien), Major Antonio Winspeare und den Architekten Francesco Carpi mit dem Bau eines Gefängnisses auf der kleinen Nachbarinsel Santo Stefano beauftragte. Als eines der ersten Zuchthäuser überhaupt scheint es sich an der Idee des Panopticons zu orientieren, welche vom englischen Juristen, Philosophen und Sozialreformer Jeremy Bentham, entwickelt wurde. Bentham, auch bekannt als Begründer des Utilitarismus, entwarf den Plan eines kreisförmigen Gebäudes, in dem alle Teile von einem einzigen zentralen Punkt aus beobachtet und kontrolliert werden können. Neben der Einsparung von Wachpersonal, besseren Luft- und Lichtverhältnissen sollte diese Bauweise vor allem dafür sorgen, dass sich die Gefangenen zu jedem Zeitpunkt überwacht fühlen, was wiederum in Folge zu einer automatische Selbstdisziplinierung der Insassen führen sollte:
„A new mode of obtaining power of mind over mind, in a quantity hitherto without example… (.) …it is the most important point, that the persons to be inspected should always feel themselves as if under inspection, at least as standing a great chance of being so…“
(Jeremy Bentham, Panopticon, Vorwort)
Die gesamte Anlage war zum Hof hin ausgerichtet. Die Fensteröffnung der meisten Zellen an der Außenmauer des Gefängnisses gleicht einem Schacht nach oben, durch den der Gefangene nur einen Teil des Himmels sehen konnte. Diese spezielle Konstruktion stellte sicher, dass den Gefangenen schon beim Betreten ihrer Zellen bewusst wurde, dass sie die Welt außerhalb des Gefängnisses – zumindest für den Zeitraum ihrer Haftstrafe – zum letzten Mal erblicken würden:
„Non si può dire che tumulto di affetti sente il condannato prima di entrarvi: con che ansia dolorosa si sofferma a guardare i campi, il verde, le erbe e tutto il mare, e tutto il cielo e la natura che non dovrà più rivedere; con che frequenza respira e beve per l’ultima volta quell’aria pura“
„Man kann das aufbrausende Gefühl nicht in Worte fassen, welches der Verurteilte wahrnimmt, bevor er eintritt, nicht die schmerzhafte Beklemmung unter der man leidet, sobald man die Felder, das Grün der Pflanzen, das weite Meer, den endlosen Himmel und die Natur zum letzten Mal betrachtet, nicht die Atemfrequenz, um das letzte Mal diese reine Luft förmlich zu trinken.“
(Luigi Settembrini, Ricordanze, S. 33)
„Una notte fui svegliato da un grido subito soffocato ‚mamma, mamma!‘ L’indomani fu sparsa la voce che Rocco Pugliese si era impiccato; ma il suicidio non era che una messa in scena. Pugliese era stato ucciso dai carcerieri.“
„Eines Nachts wurde ich von einem unterdrückten Schrei geweckt: ‚Mama, Mama!‘ Am nächsten Tag ging das Gerücht um, dass sich Rocco Pugliese erhängt hätte. Dieser Selbstmord war allerdings fingiert. Pugliese wurde von den Gefängniswachen ermordet.“
(Sandro Pertini, Sei Condanne)
Vom berühmten Politiker und Literaten Luigi Settembrini über Gaetano Bresci, dem Attentäter des italienischen Königs Umberto I, bis zum späteren Staatspräsidenten Sandro Pertini reicht die Liste der Insassen von Santo Stefano. Obwohl zwischen den Zitaten von Settembrini und Pertini viele Jahrzehnte liegen, schien in Santo Stefano die Zeit stehen geblieben zu sein. So schrieb Sandro Pertini noch 1930:
„La sveglia suona: è l’alba. Dal mare giunge un canto d’amore, da lontano il suono delle campane di Ventotene. Dalla ‚bocca di lupo‘ guardo il cielo, azzurro come non mai, senza una nuvola, e d’improvviso un soffio di vento mi investe, denso di profumo dei fiori sbocciati durante la notte. E‘ l’inizio della primavera. Quei suoni, e il profumo del vento, e il cielo terso, mi danno un senso di vertigine. Ricado sul mio giaciglio. Acuto, doloroso, mi batte nelle vene il rimpianto della mia giovinezza che giorno per giorno, tra queste mura, si spegne.”
„Der Wecker läutet: die Morgenröte bricht an. Über das Meer ist ein Liebeslied zu hören, in der Ferne läuten die Glocken von Ventotene. Durch das kleine Fenster erblicke ich den Himmel, blau wie selten zuvor, wolkenlos. Unversehens umgibt mich ein Windhauch, erfüllt vom Duft der Blumen, die sich in der Nacht geöffnet haben. Frühlingsbeginn. Die Klänge, der Duft des Windes und der strahlend blaue Himmel lassen ein Schwindelgefühl in mir aufkommen. Ich sinke zurück auf meine Liege. Heftig und schmerzhaft pocht in meinen Venen die Trauer um meine Jugend, welche hinter diesen Mauern langsam erlischt.“
(Sandro Pertini, Sei Condanne)
1965 wurde das Gefängnis schließlich geschlossen. Erbaut unter dem Einfluss der Ideale der Aufklärung sollte das Panopticon eigentlich bessere Bedingungen für Gefangene und Wärter ermöglichen. Doch das Ergebnis der Umsetzung der permanenten Überwachung und der öffentlichen Folter legte den Grundstein zu einem System des physischen und psychischen Terrors, welches letztendlich sogar Gefängnisbauten früherer Epochen harmlos erscheinen lässt.
Literatur:
- Jeremy Bentham, The Panopticon Writings, ed. Miran Bozovic, London 1995. S. 29-95. Zitiert nach: http://www.cartome.org/
- Norman Bruce Johnston, Forms of Constraint: A History of Prison Architecture, Illinois 2000, S. 48-56.
- Sandro Pertini, Sei Condanne, Due Evasioni, ed. Faggi Vico, Mailand 1978. Zitiert nach: Associazione Nazionale Sandro Pertini – Centro Espositivo Sandro Pertini, L“ergastolo di Santo Stefano: http://www.pertini.it/
- Luigi Settembrini, Ricordanze Della Mia Vita, Bd. 1-2, Neapel 1879-1880. Zitiert nach: LiberLiber, Progetto Manuzio: http://www.liberliber.it/
- Altiere Spinelli, Ernesto Rossi, Eugenio Corlorni, Manifest von Ventotene, Ventotene 1941. Zitiert nach: Seite des Europaparlaments, http://www.europarl.europa.eu/
Webpages:
- Andrea Gaddini, Santo Stefano penitentiary: http://www.andreagaddini.it/
- Amelia Pugliese, Viaggio nella casa di correzione penale di Santo Stefano
- Giancarlo Giupponi, La storia del carcere Borbonico dell’isola di Santo Stefano, RAI 3 Video, Youtube. https://www.youtube.com/
- Christian Wirth, Santo Stefano, http://www.365sterne.de
- Isola di Santo Stefano, Wikipedia: http://it.wikipedia.org
- Panopticon, Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/
Nachtrag: Von der Limitierung auf 10 Minuten Licht konnte ich bislang in den Quellen keine Spuren finden.